Im ersten Halbjahr war die Inflation für die Anleger ganz klar das beherrschende Thema. Verschiebt sich ihr Fokus nun auf die Abkühlung der Weltkonjunktur?
Das scheint in den vergangenen Wochen durchaus die Botschaft gewesen zu sein. So vermittelt es zumindest die Zinsentwicklung bei den Staatsanleihen, die wieder ihre Rolle als Fluchtwerte übernommen hatten. Nachdem die 10-jährigen Papiere in den USA bereits die 3,5 %- und in Deutschland die 2 %-Marke touchiert hatten, fielen sie zuletzt wieder auf 3 % bzw. 1,2 % zurück. Die Anleger scheinen also nicht mehr ganz so besorgt zu sein, dass die Inflation unaufhörlich steigen wird.
Instabilität birgt auch Chancen – Märkte fokussieren sich auf Wachstum
Die Entwicklungen deuten auch auf die Instabilität des künftigen Wachstums hin. Grund hierfür ist die beständige Verschlechterung der makroökonomischen Daten, auch wenn diese noch nicht eindeutig auf eine kurz bevorstehende Rezession weisen. Ein weiteres interessantes Phänomen ist die allmähliche Entkopplung der Wertentwicklung von Aktien und Staatsanleihen. In der Regel verhalten diese sich so, dass bei steigenden Anleihekursen die Aktienkurse fallen und umgekehrt. Dies war seit Jahresbeginn weitgehend nicht mehr der Fall, denn es ging sowohl für Aktien als auch für Anleihen bergab.
Die Aussicht auf eine Wachstumsverlangsamung oder gar eine Rezession ist für Aktien natürlich kaum erfreulich. Schließlich zieht das zwangsläufig eine Eintrübung der Gewinnaussichten für die Unternehmen nach sich. Allerdings verleiht die Situation denjenigen Unternehmen und Sektoren neuen Glanz, die sich in einem derartigen Umfeld als widerstandsfähig erweisen. Deshalb haben sich sogenannte defensive oder Qualitätsunternehmen in den vergangenen Wochen besser entwickelt als weniger stabile Unternehmen, die stärker auf Konjunkturschwankungen reagieren. Unter diesem Gesichtspunkt scheinen sich die Aktienmärkte nun eher auf das Wirtschaftswachstum statt auf die Teuerungsrate zu konzentrieren.
Fokus der Fed weiterhin auf Inflationsbekämpfung
Bei der US-Notenbank (Fed) hingegen steht nach wie vor die Inflation im Mittelpunkt. Das geht aus den Gesprächsprotokollen der Sitzung vom 14. und 15. Juni hervor, den berühmten „Minutes“ der Fed. Hier findet sich gleich 90 mal der Ausdruck „Inflation“, während das BIP-Wachstum nur 10 mal erwähnt wird. Im Gegensatz zu den Märkten dreht sich bei der Fed also weiterhin alles um die Preissteigerungen.
In den kommenden Wochen wird sich entscheiden, wer von beiden Recht behält. Denn in diesen Wochen stehen die Veröffentlichungen der Unternehmensergebnisse für das zweite Quartal, erste Schätzungen des BIP für die Staaten und neue Umfragen zur Stimmung von Unternehmen und Verbrauchern an. Sind die Notenbanker nach ihrem Schnitzer bei der Inflation, die sie zu lange für vorübergehend hielten, dieses Mal „beyond the curve“? Oder sind es im Gegenteil die Märkte, die danebenliegen? Die Zukunft wird es zeigen.
Am 11. Juli 2022 von Olivier de Berranger, CIO bei LFDE