Während die Anleger sich Gedanken über eine mögliche Rezession machen, zeigt China wieder einmal, dass es einen Schritt voraus ist.
Seien es die Konjunktur, die Regulierung der Tech-Unternehmen, geopolitische und politische Sorgen oder der Immobilienmarkt – alle Indikatoren liegen im roten Bereich und deuten darauf hin, dass das Reich der Mitte unter einer ausgeprägten Konjunkturschwäche leidet. Können sich unter diesen Rahmenbedingungen günstige Anlagegelegenheiten bieten? Im Hinblick auf die Bewertung an den Börsen deutet das Kurs-Gewinn-Verhältnis darauf hin, dass chinesische Aktien derzeit attraktiver sind, allen voran Technologietitel. Wie sieht die Lage tatsächlich aus?
Chinesischer Aktienmarkt (noch) im Rückgang, doch mit starkem Potenzial
Der Rückgang des chinesischen Aktienmarktes hat zahlreiche Gründe. Der erste ist die Regulierung der chinesischen Tech-Unternehmen, mit der wettbewerbshemmende Praktiken eingedämmt und ein Rahmen für die Nutzung von Daten geschaffen werden sollen. Ein weiterer Grund ist der Konflikt zwischen den USA und China in Bezug auf die Rechnungsprüfungen chinesischer Unternehmen, die an den US-amerikanischen Börsen notiert sind. Hinzu kommen die Regulierung des Immobilienmarktes, die an die Qualen der Wirtschaftskrise von 2008 in den USA erinnert, die Wiederaufnahme der „Null-Covid“-Politik sowie erneute Befürchtungen in Verbindung mit den geopolitischen Bestrebungen Chinas, insbesondere im Hinblick auf Taiwan.
Einige renommierte Anleger schlagen angesichts dessen Alarm und ziehen es vor, diesem Markt den Rücken zu kehren, den sie für derzeit zu riskant halten. Auf lange Sicht besitzt er jedoch starkes Potenzial.
Mittelfristig verursachen die strengen Gesundheitsmaßnahmen Chinas zwar eine Schwäche der Binnenwirtschaft, die auch internationale Auswirkungen hat. Zugleich sind jedoch ein Rückgang der Coronafälle, leichte Lockerungen in einigen Städten sowie die Wiederbelebung der Mobilität in und zwischen Städten zu beobachten. Der Straßen-, Schienen- und Wassergüterverkehr ist zwar weiterhin schwach, scheint jedoch an einem Tiefpunkt angelangt zu sein, auf den ein Aufschwung folgen kann.
Das Politbüro der Volksrepublik bekräftigte auf seiner jüngsten Sitzung Ende April seine Entschlossenheit, zur Bekämpfung der Konjunkturverlangsamung eine akkommodierende Geld- und Haushaltspolitik umzusetzen. Üblicherweise ist dies ein ausgezeichneter Katalysator für Risikoanlage. Dennoch zeigt sich der Markt noch zögerlich.
Geopolitische Risiken sorgen für Unsicherheit
Einer der Gründe für diese Zurückhaltung liegt in der Transparenz der Rechnungslegung von chinesischen Unternehmen, die an den US-Börsen notiert sind. Bloomberg zufolge gibt es Fortschritte bei den Gesprächen zu diesem Thema. Sollte dies tatsächlich der Fall sein, könnten ein Ausschluss dieser Unternehmen vom amerikanischen Markt (Delisting) und die möglicherweise damit verbundenen negativen Konsequenzen vermieden werden.
Einen weiteren, weniger klaren Grund stellen die Bestrebungen Xi Jinpings in Bezug auf Taiwan dar, das er als „seine 23. Provinz“ betrachtet und dem er bereits mit einer Invasion gedroht hat. Laut der Financial Times kamen am 22. April die chinesischen Regulierungsbehörden und Vertreter der Zentralbanken in einer Notsitzung zusammen. Anlass der Sitzung war den Schutz chinesischer Vermögenswerte im Ausland für den Fall einer Invasion und amerikanischer Sanktionen zu organisieren.
Anleger sehen im Hinblick auf die wirtschaftliche Positionierung Chinas, dessen Bewertung sowie Fiskal- und Geldpolitik womöglich durchaus eine Chance, Risiken einzugehen. Das geopolitische Risiko lässt sich angesichts des Geflechts der Handelsbeziehungen zwischen China und dem Rest der Welt allerdings schwerer erfassen. Nach Putins Invasion in der Ukraine wäre eine weitere in Taiwan durch China ein Szenario, das – sollte es eintreten – zweifellos einen massiven Einbruch chinesischer Vermögenswerte nach sich ziehen würde.
Paris, 10. Mai 2022, von Olivier de Berranger, CIO bei LFDE