In den USA stieg die Kerninflation im März weniger stark als erwartet, die Preise für Gebrauchtwagen sinken und die Inflation am Immobilienmarkt lässt nach. Diese drei Aspekte reichten bereits aus, um anlässlich der jüngsten Veröffentlichungen zur US-Inflation über einen möglichen Inflationshöhepunkt zu spekulieren. Eine erneute Verwendung des Adjektivs „vorübergehend“ ist jedoch höchst unpassend, da die Inflation in den USA seit fast einem Jahr hoch ist und es auch noch viele Monate bleiben dürfte. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass der Kernindex – obwohl der weltweite Preisindex aufgrund des Höhenflugs der Energiepreise gestiegen ist – scheinbar auf der Stelle tritt. Bevor er fällt? Derzeit ist dies noch absolut ungewiss.
Zunächst stellt ein einzelner Wert natürlich noch keinen Trend dar. Und zweitens: Während sich die Inflation in den USA seit fast einem Jahr beschleunigt, werden die Basiseffekte günstiger sein. Denn während die Preise im Frühjahr 2021 bereits hoch waren, lagen sie im Frühjahr 2020 noch auf einem sehr niedrigen Niveau. Rein mathematisch betrachtet ist es daher durchaus wahrscheinlich, dass die Inflation in den kommenden Monaten weniger stark ansteigt. Das bedeutet jedoch noch nicht, dass sie deutlich nachgeben könnte. Einige Komponenten, die vor einem Jahr stark zur Inflation beigetragen haben, werden gewiss eine moderatere oder sogar rückläufige Preisentwicklung verzeichnen, wie etwa bei Gebrauchtwagen.
Engpässe in den Lieferketten sorgen für anhaltenden Inflationsdruck
Zum jetzigen Zeitpunkt erscheint es jedoch eher unwahrscheinlich, dass der Inflationsdruck spürbar nachlässt. Neben der Energieproblematik sind es vor allem die Engpässe in den weltweiten Produktions- und Lieferketten, die wieder zunehmen – insbesondere aufgrund der erneuten starken Ausbreitung von COVID-19 in China und der mit der „Null-Covid“-Politik des Landes verbundenen Lockdowns. In der vergangenen Woche saßen beispielsweise fast 500 Frachtschiffe in chinesischen Häfen fest. Auch wenn sich diese neuerlichen Verwerfungen nicht unmittelbar auf die Verbraucherpreise auswirken, ist bei den Erzeugerpreisen keinerlei Entspannung in Sicht. So verzeichneten die Erzeugerpreise für Fertigfabrikate in den USA nach einer erneuten monatlichen Steigerung von 1,9 % den stärksten Anstieg seit 1975.
Straffere Geldpolitik: Zentralbanken halten an ihrem Kurs fest
Man sollte daher die Abschwächung der amerikanischen Inflation nicht überinterpretieren. Vor allem wird dies in keiner Weise den Normalisierungskurs der US-Notenbank (Fed) infrage stellen, die ihre Geldpolitik in den kommenden Monaten drastisch straffen wird. Ihre absolute Priorität bleibt die Bekämpfung der Inflation. Gleiches gilt für die Europäische Zentralbank (EZB). Nach ihrer Sitzung am vergangenen Donnerstag machte sie deutlich, dass ungeachtet der nach unten korrigierten Wachstumsprognosen und der durch den Russland-Ukraine-Krieg verursachten Ungewissheiten die Stabilisierung der Preise für sie oberste Priorität hat. Sollte sich die Inflation in den kommenden Monaten wesentlich abschwächen, würden die Zentralbanken natürlich die Geschwindigkeit der Normalisierung ihrer Geldpolitik anpassen. Doch derzeit deutet nichts darauf hin und die Lage in China gibt keinen Anlass zu Optimismus. Das von Inflation und Zinsanhebungen geprägte Umfeld wird ganz offensichtlich noch viele Monate bestehen bleiben. Umsichtige Anleger werden dies bei ihrer Vermögensallokation umfassend berücksichtigen – wenn nicht schon geschehen.
Geschrieben am 15. April 2022 von Olivier de Berranger, CIO, LFDE