«Die Weltwirtschaft ist ins letzte Quartal 2025 in einer Gelassenheit gestartet, die im Frühjahr – auf dem Höhepunkt des Handelskonflikts – kaum jemand erwartet hätte. Hinter dieser ruhigen Fassade werden jedoch Bruchlinien sichtbar», schreibt Benjamin Melman, Global Chief Investment Officer bei Edmond de Rothschild Asset Management.
Sechs Monate nach dem «Liberation Day» zeigen die globalen Wachstumsdaten trotz regionaler Unterschiede weiterhin Stabilität. Nach Schätzungen des IWF dürfte das weltweite BIP in den Jahren 2025 und 2026 um jeweils 2,9 Prozent zulegen – und damit nahezu im gleichen Tempo wie 2024.
Belastend wirken allerdings höhere Zölle, rekordhohe Verschuldung – in den USA, Frankreich und sogar Japan – verbunden mit fiskalischen Konjunkturprogrammen, sowie eine hartnäckige Inflation, die seit mehr als vier Jahren oberhalb der Fed-Zielmarke liegt. Mit einem erwarteten BIP-Wachstum von 2,2 Prozent zeigt sich die US-Wirtschaft robuster als andere Industriestaaten. Investitionen werden dort massgeblich durch Künstliche Intelligenz (KI) getrieben, während die Bautätigkeit schwach bleibt.
Der private Konsum ist zwar insgesamt stabil, doch einkommensschwächere Haushalte geraten zunehmend unter Druck. Auffällig ist, dass die reichsten zehn Prozent der Verbraucher inzwischen 50 Prozent der Konsumausgaben tätigen. Dies wird gestützt durch den Vermögenseffekt angesichts neuer Höchststände im S&P 500. Damit erscheint die private Nachfrage weniger homogen, als sie auf den ersten Blick wirkt.
Europa steckt dagegen in einer zögerlichen Erholung, die durch die neue Führung Deutschlands geprägt wird. Zwar soll eine beschleunigte Fiskalpolitik Impulse geben, doch deren Umsetzung verzögert sich, und bislang sind kaum Investitionen ausgelöst worden. Immerhin zeichnet sich in Europa eine klarere strategische Ausrichtung ab.
An den Kapitalmärkten zeigt sich bislang wenig Beunruhigung: getrieben durch den erneuten Lockerungskurs der Fed, den anhaltenden KI- Hype, aussergewöhnlich niedrige Volatilität und steigende Mittelzuflüsse in Aktienfonds. Besonders KI-Aktien – Sinnbild hochkonzentrierter Indizes – steuerten seit dem Start von ChatGPT im Jahr 2022 fast drei Viertel der Gewinne des S&P 500 bei.
Hinter dieser ruhigen Fassade werden jedoch Bruchlinien sichtbar.
Erstens hat sich der US- Arbeitsmarkt deutlich abgekühlt. Eine drastische Abwärtsrevision der Beschäftigungszahlen zeigt, dass das Beschäftigungswachstum mit unter 1 Prozent ein niedriges Niveau erreicht hat – für eine Phase ohne Rezession ungewöhnlich. Noch deutlicher wird die Schwäche beim Vergleich des öffentlichen und des privaten Sektors: Letzterer verzeichnete einen absoluten und relativen Beschäftigungsrückgang.
Zweitens verschärfen sich die Handelsrisiken, unter anderem durch Spannungen zwischen China und den USA: Donald Trump kündigte neue Zölle von 100 Prozent auf sämtliche chinesische Importe ab dem 1. November an, begleitet von massiven Einschränkungen beim Import chinesischer Produkte und kritischer Software. Peking konterte mit einem eigenen Massnahmenpaket, das unter anderem strengere Auflagen für die Ausfuhr seltener Erden vorsieht. Künftig benötigen ausländische Unternehmen für Produkte mit selbst geringen Anteilen dieser Rohstoffe eine Genehmigung der chinesischen Regierung. Sollte diese Zollpolitik umgesetzt werden, droht den beiden grössten Volkswirtschaften ein De-facto-Embargo, das globale Lieferketten erheblich schwächen könnte.
Drittens warnte die Bank of England in ihrem jüngsten Finanzstabilitätsbericht vor den Risiken im boomenden Markt für Private Credit ausserhalb des klassischen Bankensektors. Ungenügende Transparenz könnte dazu führen, dass der tatsächliche Verschuldungsgrad unzureichend erfasst wird.
Die jüngsten Doppelinsolvenzen der US- Autounternehmen Tricolor und First Brand unterstreichen die Gefahren hoher Verschuldung und komplexer, schwer durchschaubarer Finanzierungsstrukturen. Zudem stellen sie die bestehenden Sorgfaltsprüfungs- und Risikostandards infrage, dies in einem Markt, der allein in den USA ein Volumen von über 1,5 Billionen US-Dollar erreicht hat. Die mangelnde Transparenz hat die Risikowahrnehmung auf den privaten Kreditmärkten bereits erhöht und könnte eine Ansteckung für andere private Kreditnehmer mit hohen Verschuldungsquoten begünstigen.
Private Finanzierungen haben in den vergangenen Jahren stark zugenommen, insbesondere bei KI-Unternehmen, die sich im Wettlauf um den Aufbau neuer Infrastrukturen befinden. Wenn man jedoch die hohen Bewertungen innerhalb des Sektors berücksichtigt, wurde die Frage der «Kapitalrendite» nie ernsthaft angesprochen.
Laut einer Studie von Goldman Sachs werden die Big Five (Microsoft, Amazon, Google, Meta, Oracle) in diesem Jahr 380 Milliarden US-Dollar für Investitionen ausgegeben haben, hauptsächlich zur Unterstützung generativer KI. Das entspricht einem Anstieg um 60 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Die Studie zeigt zugleich, dass die Kapitalrendite der meisten Hyperscaler über den Kapitalkosten liegt. Dennoch bleibt fraglich, ob künftige Gewinnprognosen diesem Tempo standhalten. Besonders kritisch ist das Verhältnis von Investitionen zu Umsatz im Cloud-/KI-Segment, das derzeit bei 35 Prozent liegt – mehr als doppelt so hoch wie im historischen Schnitt von etwa 15 Prozent.
Die starke Konzentration auf wenige Anbieter erhöht nicht nur die Markteintrittsbarrieren, sondern auch das systemische Risiko: Würde ein grosser Player sein Budget abrupt kürzen, wären alle Marktteilnehmer betroffen. Moody’s warnte jüngst nach einer grossen Anleiheemission von Oracle vor Risiken: hohe Abhängigkeit von grossen KI-Verträgen, Schuldenwachstum schneller als EBITDA, länger anhaltende negative Cashflows und eine Verschuldung, die den Verschuldungsgrad (Verhältnis von Schulden zu EBITDA) auf etwa das Vierfache erhöhen könnte.
Hinzu kommen infrastrukturelle Engpässe: Überlastete Stromnetze in Knotenpunkten wie Nord-Virginia, Dublin und Frankfurt sowie lange Entwicklungszeiten für neue Rechenzentren. Unterm Strich verlangt KI massive, energieintensive und teure Infrastruktur, deren Profitabilität erst langfristig einsetzt.
Der US-Dollar hat binnen neun Monaten den stärksten Wertverlust seit 40 Jahren erlitten. Gründe sind die lockere Fed-Politik trotz hoher Inflation, Zweifel an der Unabhängigkeit der US-Notenbank – verstärkt durch den absehbaren Abgang von Jerome Powell – sowie die zunehmende Tendenz vieler Schwellenländer-Zentralbanken, Dollar-Positionen abzubauen und sich stattdessen durch den Ankauf von Edelmetallen abzusichern. Abgesehen von Gewinnmitnahmen, die zu einer Konsolidierung der Euro-Dollar-Parität führen könnten, dürfte der US-Dollar in einem strukturellen Abwärtstrend bleiben.
Auf dem Rentenmarkt spricht die Abkühlung am Arbeitsmarkt dafür, dass kurz- und mittelfristige Renditen durch die unterstützende Fed-Haltung gedeckelt bleiben, welche seit dem Amtsantritt von Stephen Miran im Fed-Direktorium noch gefestigter ist. Miran teilt die Ansicht, dass der angemessene Leitzins deutlich unter den offiziellen FOMC-Projektionen liegen sollte.
Bei Aktien bleiben wir vorsichtig und achten besonders auf die Index-Bewertungen in den USA, die wieder die Höchststände von 2021 erreichen – diesmal jedoch ohne vergleichbaren geldpolitischen Rückenwind der Fed und ohne identisches Wachstumspotenzial.
Der Einfluss der KI auf die Aktienmärkte ist unbestritten. Doch angesichts der Gewinnprognosen grosser Unternehmen wird die wachsende Kluft zwischen Kapitalkosten und Gewinnerwartungen immer schwerer tragbar.