Während der vergangenen Wochen hat die US-Regierung zunehmend die Tendenz erkennen lassen, das Risiko einer durch Leitzinserhöhungen bewusst herbeigeführten Rezession in Kauf zu nehmen. Marktwirtschaften versuchen in der Regel (von Kriegszeiten abgesehen), das kurzfristige BIP-Wachstum zu fördern. Selbst wenn dies unter Umständen zulasten anderer wertvoller Güter, wie etwa der Umwelt, geht. Wir erleben jedoch gerade den seltenen Fall einer bewussten Abkehr von dieser Priorität zugunsten eines langfristigen Ziels, nämlich der Preisstabilität.
So stellte Jerome Powell jüngst bei seiner Anhörung vor dem US-Senat am 22. Juni klar, dass die Rezession zwar „durchaus im Bereich des Möglichen“ läge, ihn das aber nicht von der Bekämpfung der Inflation abhalten werde. Die Senatorin Elisabeth Warren, die Jerome Powell bei einer der vorherigen Anhörungen als „gefährlichen Mann“ bezeichnet hatte, konfrontierte ihn mit seinen Verantwortlichkeiten, indem sie auf „Millionen von Arbeitsplätzen“ hinwies, die bei einer Rezession verloren gehen könnten. Doch Fed-Chef Powell zeigte sich ungerührt. Er räumte zudem ein, dass die Fed über keinerlei Handhabe verfüge, um die Preise der für die Privathaushalte wichtigsten Güter zu zügeln, nämlich Energie und Lebensmittel.
Rezessionsgefahr mit doppeltem Risiko
Die Fed geht also das Risiko einer Rezession ein. Sie bestreitet aber, sie herbeizuwünschen, und gesteht ein, dass sie kaum Einfluss auf den offensichtlichsten Teil der Inflation hat. Es besteht also ein doppeltes Risiko: nicht nur das einer Rezession durch die Straffung der Geldpolitik, sondern im schlimmsten Fall auch das einer Rezession, ohne unmittelbare Auswirkungen auf die Preise von Gütern des täglichen Bedarfs.
Für den Markt war die Sache klar: Nachdem die Rendite 10-jähriger US-Anleihen kurz vor der Anhörung Jerome Powells mit knapp 3,5 % einen Spitzenwert erreicht hatte, ging sie zum Ende der Woche auf rund 3 % zurück. Dies spiegelt die Befürchtungen einer Konjunkturabkühlung wider. Auf den Zinsmärkten rechnet man sogar mit einer Kehrtwende der Geldpolitik mit Leitzinssenkungen ab dem ersten Quartal 2023.
Preisstabilität als langfristiges Ziel zulasten des kurfristigen Wachstums
Ist es eine effiziente Strategie, die Inflation zulasten des kurzfristigen Wachstums zu bekämpfen? Die Antwort der Fed ist eindeutig: Preisstabilität ist das „Fundament der Wirtschaft“ und somit die Grundlage für einen soliden Arbeitsmarkt. Zudem, so fügte Jerome Powell hinzu, trifft die Inflation die Haushalte mit den geringsten Einkommen am härtesten. Sie muss also dringend bekämpft werden. Paradoxerweise ist Abhilfe um den Preis einer Rezession das einzige Mittel, um langfristig das doppelte Mandat der Fed zu erfüllen – nämlich die Gewährleistung von Preisstabilität und die Vollbeschäftigung, auch wenn das auf kurze Sicht ein Widerspruch ist.
Sollte sich diese Hypothese bewahrheiten, wird Jerome Powell als Visionär gepriesen. Ähnlich wie der ehemalige Fed-Präsident Paul Volcker, der heute von vielen als der Bezwinger der Inflation betrachtet wird und nicht als der Verantwortliche für eine enorme Welle der Arbeitslosigkeit zu Beginn der 1980er-Jahre. Sollte sein Vorhaben allerdings scheitern, wird man Jerome Powell als den Mann betrachten, der nicht nur unter wirtschaftlicher Kurzsichtigkeit litt, weil er das Ausmaß der Inflation nicht rechtzeitig erkannte, sondern der bei dem Versuch, seinen ersten Fehler zu korrigieren, auch noch überreagierte. Die Zeit wird es zeigen.
Unterschätzt die Fed die Risiken für die Kapitalmärkte?
Vor diesem Hintergrund muss man das von der Fed eingegangene Risiko relativieren. Es ist vielleicht weniger akut, als man befürchten könnte. Denn wenn es in den nächsten Monaten zu einer Rezession käme, was noch nicht sicher ist, könnte sich der Schaden in Grenzen halten. Zunächst einmal haben die Börsen bereits deutliche Verluste verzeichnet und eine moderate Rezession eingepreist. Darüber hinaus verfügen die Zentralbanken wieder über Handlungsspielraum, um erneut eine akkommodierendere Geldpolitik zu betreiben. Hinzu kommt, dass das Bankensystem nicht in erster Linie betroffen sein dürfte – kein Vergleich mit dem Zusammenbruch des Finanzsystems im Jahr 2008. Dann sind da noch die Ersparnisse der Haushalte – zumindest bei denen, die welche besitzen – die noch recht hoch sind und als Puffer dienen könnten und die Tatsache dass die Unternehmen nicht übermäßig verschuldet sind.
Selbst wenn sich die geldpolitische Strategie der von der Inflation geblendeten Fed als Fehler erweisen sollte, dürfte dieser dank der derzeitigen Weitsicht der Märkte keine allzu dramatischen Konsequenzen nach sich ziehen. Wenn hingegen die Fed mit ihrer langfristigen Ausrichtung Recht behält, würden sich die Märkte mit ihren derzeitigen Ängsten als extrem kurzsichtig erweisen. In jedem Fall wird die Klarsicht einer der beiden, die Verblendung des anderen teilweise ausgleichen.
Von Olivier de Berranger, CIO bei LFDE am 24. Juni 2022