Viele Monate lang betrieb die Europäische Zentralbank (EZB) in Sachen Inflation scheinbar eine Vogel-Strauss-Politik und tat diese als „vorübergehend“ ab. In der vergangenen Woche ist nun aus diesem Strauss ein Falke geworden, der entschlossen ist, die Inflation aggressiv zu bekämpfen. Der 9. Juni 2022 ist also ein denkwürdiger Tag für die EZB. Christine Lagarde hat als Stimme des EZB-Rates das Ende der Pause eingeläutet. In einem Umfeld, in dem ihr die Inflation zu entgleiten scheint, nimmt die EZB die Zügel nun wieder fest in die Hand und kündigt an, der Ausweitung ihrer Bilanz ein Ende zu bereiten und – was noch wichtiger ist – erstmals seit 2011 wieder eine Zinsanhebung vorzunehmen.
Dafür ist es auch höchste Zeit, denn die Verbraucherpreise sind in der gesamten Eurozone mit 8,1 % gegenüber dem Vorjahr rasant gestiegen. Vor nur 18 Monaten waren sie noch rückläufig. In den baltischen Ländern übersteigt die Inflation sogar die 15-Prozent-Marke!
Anhebung der Leitzinsen erforderlich für Stabilisierung
Dringender Handlungsbedarf besteht bei den Leitzinsen. Die Ankündigung einer Anhebung des Einlagenzinses um 0,25 % ist ganz und gar nicht unerheblich, weder inhaltlich noch formal, denn sie wird auf der nächsten Sitzung am 21. Juli wirksam. Der Brauch will es nun einmal so, dass Zinsanhebungen zunächst im Vorfeld angedeutet werden, bevor sie dann am Tag der Sitzung tatsächlich umgesetzt werden. Die sechs Wochen im Voraus erfolgte Ankündigung der EZB ist Ausdruck ihres Willens, das Tempo wieder selbst zu bestimmen.
Die Ankündigung zeigt aber auch, dass die EZB Vorsicht walten lassen muss, um eine Kehrtwende der Märkte zu verhindern und dort zumindest kurzfristig für Transparenz zu sorgen. Die EZB ist sich dessen durchaus bewusst: sie hat mehrfach darauf hingewiesen, dass diese Maßnahme – auch wenn sie vorübergehend für Stress an den Finanzmärkten sorgen könnte – erforderlich sei, um die finanziellen Rahmenbedingungen auf längere Sicht zu stabilisieren. Es muss erst wehtun, bevor der Schmerz nachlassen kann.
Schluss mit der Staatsfinanzierung
Höchste Zeit ist es dann auch bei den Anleihenkäufen. Nachdem sie ihre Bilanz seit Ausbruch der Coronakrise mit einem Ballast von zusätzlichen 4.000 Milliarden Euro strapaziert hat, wird die EZB ab dem 1. Juli keine Anleihen mehr kaufen. Damit hat die direkte Unterstützung der Finanzierung der Staaten ein Ende. Nun stehen sich auf den Anleihenmärkten wieder uneingeschränkt Angebot und Nachfrage gegenüber, auf die Gefahr eines erheblichen Anstiegs der Finanzierungskosten für die Staaten hin, von denen einige ohnehin schon hoch verschuldet sind.
Auch im weiteren Verlauf wird es kaum Grund zur Freude geben, denn der Grat, über den die EZB bei der geldpolitischen Straffung wandern wird, ist sowohl schmal als auch steil. Die ersten Schwierigkeiten zeichnen sich schon für September ab: Der Weg ist bereits frei für eine doppelte Anhebung um 0,50 %, falls die Inflation über den Sommer nicht zurückgehen sollte, was derzeit recht unwahrscheinlich ist.
Auch wenn es „notwendig ist, noch weiterzugehen“, sollte man nicht zu weit gehen und dabei die Gefahr in Kauf nehmen, das ohnehin schon schwache Wachstum völlig zunichtezumachen.
Am 13. Juni 2022, von Olivier de Berranger, CIO bei LFDE