Ist die Inflation vorübergehend oder nicht? Handelt es sich um einen begrenzten Anstieg der Waren- und Dienstleistungspreise oder doch um den Beginn einer Lohn-Preis-Spirale? Wird sich dieses Phänomen von selbst verflüchtigen, oder ist ein entschlossenes Handeln der Zentralbanken nötig? Auch wenn die öffentlichen Bekanntmachungen immer mehr auf eine anhaltende Inflation hindeuten, herrscht unter den Marktakteuren weiterhin eine Debatte über die Preisentwicklung. Die Nachfragedynamik und die daraus resultierenden Wachstumsaussichten lösen hingegen weniger Kontroversen aus. Zugegebenermaßen sind die jüngsten Zahlen auf Ebene sowohl der Unternehmen als auch der Gesamtwirtschaft durchaus beeindruckend.
In den USA übertrafen die Erhebungen der Notenbanken von New York und Philadelphia für das verarbeitende Gewerbe die Konsenserwartungen bei weitem, und das nachdem zu Monatsbeginn sehr gute Werte der Einkaufsmanager-Indizes gemeldet worden waren – insbesondere ein historischer Höchstwert bei der ISM-Erhebung für das Dienstleistungsgewerbe. Die Komponente „Auftragseingänge“, in der die Nachfrage abgebildet wird, verzeichnete in der Region Philadelphia ihren höchsten Stand seit März 1973! Zwar erreichten die Einzelhandelsumsätze im Oktober nicht ganz so hohe Niveaus, in den USA – wo sich insbesondere die Online-Umsätze beschleunigten – und in China überraschten sie jedoch ebenfalls positiv. Erwähnenswert sind auch die ausgezeichneten Ergebnisse von NVIDIA im dritten Quartal, die belegen, dass die Nachfrage nach Halbleitern noch lange nicht erschöpft ist.
Kann dieser Konsumhunger anhalten? Mehrere anfällige Bereiche gilt es aus unserer Sicht im Auge zu behalten. Die für die weltweite Nachfrage maßgeblichen chinesischen Verbraucher würden ihre Ausgaben zweifellos einschränken, wenn es zu einer Immobilienkrise käme. Mit dem Ärger rund um Evergrande nahm die Befürchtung eines solchen Szenarios Konturen an. Was die Anschaffung langlebiger Güter anbelangt, sind die Menschen in den USA laut der Erhebung der Universität Michigan zum Verbrauchervertrauen zurückhaltend, da die Preise als zu hoch empfunden werden. Ein weiterer Anstieg der Verbraucherpreise könnte die Ausgaben für diese Güter in den kommenden Monaten begrenzen. Darüber hinaus ist nicht auszuschließen, dass die jüngste Zunahme der Corona-Fallzahlen in einigen Ländern sowie die mancherorts getroffenen Maßnahmen, wie z. B. der Lockdown in Österreich, negative Auswirkungen auf den Konsum haben werden.
Die Konsumaussichten werden dennoch durch mehrere Aspekte auf sehr hohen Niveaus gehalten. Zum einen ist die Sparquote der privaten Haushalte weiterhin hoch. Dies gilt insbesondere für die Eurozone, wo sie deutlich über ihrem historischen Durchschnitt liegt. Zusammen mit der bemerkenswerten Zuversicht, auf die die Erhebungen über das Verbrauchervertrauen schließen lassen, stellt dies eine beachtliche Reserve für künftige Konsumausgaben dar. Darüber hinaus wirken sich die Saison mit den Feiertagen zum Jahresende und großen Werbekampagnen wie etwa dem „Black Friday“ begünstigend aus. Des Weiteren gibt es noch keine Rotation bei den weiterhin sehr kräftigen Konsumausgaben für Güter. Falls letztere sich auf die Dienstleistungen verlagern sollten, könnte dies ein erstes Anzeichen für die Normalisierung der Nachfrage sein.
Auf kurze Sicht ist daher wohl kaum mit einer Abschwächung der Nachfrage zu rechnen. Hinsichtlich des Ungleichgewichts zwischen Angebot und Nachfrage – der Hauptursache für den gegenwärtigen Inflationsdruck – sollten die Hoffnungen eher auf einer Anpassung des Angebots ruhen. Vorerst sind die Anzeichen für eine Normalisierung der Engpässe in den weltweiten Lieferketten allerdings nach wie vor schwach.
Redaktion am 19. November 2021, mit Olivier de Berranger, CIO, LFDE