Vermeintlich kurzzeitige Probleme dauern häufig länger als erwartet. So ist es auch mit der Inflation. Auch wenn die Fed und die EZB sie weiterhin als „vorübergehend“ einstufen, beunruhigt sie zunehmend Anleger, Hersteller und Verbraucher. Auch einige Mitglieder der Fed sorgen sich allmählich, wie die Protokolle ihrer vergangenen Sitzung zeigen. Immer mehr von ihnen sind der Auffassung, dass die Vorteile der aktuellen Liquiditätsspritzen allmählich durch die negativen Effekte, d. h. die Inflation, aufgewogen werden. Aber nicht jede Art von Inflation liegt in der Verantwortung der Zentralbanken, auch wenn es ihre gemeinsame Aufgabe ist, sie zu steuern. Hier muss genau differenziert werden.
Reflation vs. Inflation: Rückkehr zum Gleichgewicht oder echte Inflation?
Zuallererst gilt es, „Reflation“ und „Inflation“ zu unterscheiden. Erstere bedeutet einen Anstieg der Preise nach einem als zu niedrig empfundenen Niveau. Ein Beispiel sind die derzeitigen Ölpreise. Auf 10 oder gar 20 Jahre betrachtet liegen sie im Durchschnitt bei 70 Dollar je Barrel Brent, wenn man den aktuellen Dollarkurs zugrunde legt. Heißt, dieser Durchschnitt wäre höher, wenn man die Inflation berücksichtigen würde. Derzeit befindet sich Erdöl mit über 80 Dollar auf einem Höchststand seit 2014. Doch bei genauerem Hinsehen spiegeln die aktuellen Preise eine Rückkehr zum Durchschnitt wider, nachdem die Preise 2020 unglaublich niedrig waren und in den vergangenen fünf Jahren insgesamt ein niedriges Niveau erreicht hatten. Diese Reflation signalisiert die Rückkehr zu einem gewissen Gleichgewicht. Kein Grund zur Sorge also aufseiten der Zentralbanken, die hier sowieso keinen Einfluss nehmen könnten.
Die Lage an anderen Energiemärkten wie Gas oder Kohle entspricht eher einer echten Inflation. Sie treiben die Preise für Heizen, Strom und letztlich auch für Fertigerzeugnisse nach oben. Aber auch hier können die Zentralbanken nichts tun. Generell liegt die Inflation bestimmter Güter, bei denen die Nachfrage das Angebot vorübergehend übersteigt, ebenfalls nicht in ihrer Verantwortung. Dies trifft gegenwärtig auf die Preise für elektronische Chips und mittelbar auch auf die Preise bestimmter langlebiger Güter zu. In der Regel entspricht das Angebot letztlich der Nachfrage oder übersteigt diese sogar, was einen ebenfalls vorübergehenden, deflationären Gegenschock auslöst. Hier können Zentralbanken keine Abhilfe schaffen.
Anzeichen für Lohn-Preis-Spirale
Eine Verantwortung haben die Zentralbanken hingegen bei der langfristigen Inflation im Wirtschaftssystem. Insbesondere was die Preise für Finanzwerte oder Immobilien sowie die Löhne anbelangt. Erstere schaffen einen vorübergehenden Wohlstandseffekt, der zu einer übermäßigen Risikobereitschaft führen kann, wodurch Blasen und Krisen ausgelöst werden. Letztere sind zunächst zwar vorteilhaft für die privaten Haushalte, aber dann nachteilig, wenn die ausgegebenen – nicht gesparten – Einkünfte einen generellen Anstieg der Preise verursachen. Der reale Zuwachs an Kaufkraft kann null betragen. Zudem verliert Geld tendenziell an Wert, was auch die Kosten für Importe verteuert.
Ebendieses Phänomen lässt sich mittlerweile insbesondere in den USA beobachten. Die jüngsten Arbeitsmarktdaten zeigen es: Die Lohnkosten steigen deutlich (+4,5 % im Jahresvergleich), insbesondere in den niedrigen Lohnstufen (+7 %). Dies wäre positiv, wenn die Preise nicht ebenfalls steigen würden. Denn sie steigen nicht nur für bestimmte Güter, bei denen Lieferengpässe bestehen, die jedoch weniger problematisch sind, sondern vor allem im Immobiliensektor. So verzeichnete die US-Inflation im August in der Komponente „Miete“ mit +0,5 % ihren kräftigsten Monatsanstieg seit 2001. Die Komponente für die Eigentümer (Owner's equivalent rent of residence) legte um +0,4 % zu. Dies ist die stärkste Änderung zum Vormonat seit Sommer 2006. Wie gewonnen, so zerronnen also – zumindest teilweise.
Inflationssteuerung mit Fingerspitzengefühl
Hier können Zentralbanken einwirken, indem sie die Finanzierungsbedingungen straffen, um den Motor abzukühlen, ohne ihn jedoch abzuwürgen. Je früher, desto besser, denn abwarten macht eine umso stärkere Reaktion erforderlich.
Es bestehen daher wenig Zweifel, dass die Zentralbanken und insbesondere die Fed künftig einen anderen Ton anschlagen werden. Mehrere Schwellenländer haben dies bereits getan – China gehört allerdings nicht dazu. Dies wird an den Märkten spürbar werden. Die US-Zinskurve könnte weiter steigen, entweder insgesamt oder vor allem am kurzen Ende, das eher die geldpolitischen Erwartungen widerspiegelt. Der Vorteil besteht heute darin, dass diese Steuerung angesichts der Erfahrungen aus den jüngsten Straffungszyklen sowie der Höhe der Schulden mit äußerster Vorsicht, aber durchaus entschlossen umgesetzt wird. Der Markt ist also in den kundigen Händen des Fed-Vorsitzenden Jerome Powell, der bei den Preisen nun ganz genau differenzieren muss, um die Wirtschaft aus dem Inflationszyklus hinauszuführen, in den sie scheinbar hineingeraten ist.
Von Olivier de Berranger, CIO bei LFDE