«US-Unternehmen verharren im Stimmungstief, während harte Wirtschaftsdaten für eine solide Lage sprechen. In Europa ist es umgekehrt: Hier trifft grosser Optimismus auf trübe Wachstumszahlen. Die Diskrepanz zwischen Lage und Erwartungen eröffnet Chancen», schreibt Carsten Roemheld, Kapitalmarktstratege bei Fidelity International.
In den Chefetagen von US-Unternehmen herrsche derzeit schlechte Stimmung. Viele Top-Managerinnen und Manager erwarten eine wirtschaftliche Abkühlung. Führungskräfte genauso wie Verbraucherinnen und Verbraucher rechnen laut Roemheld offenbar mit einem baldigen Abschwung. «Während die Stimmung gekippt ist, präsentiert sich die US-Wirtschaft in harten Zahlen allerdings erstaunlich wacker und stabil.»
Ein Blick auf die Industriedaten verdeutliche die Kluft: Der ISM-Index, der die Stimmung der Einkaufsmanagerinnen und -manager im verarbeitenden Gewerbe misst, fiel im Mai auf 48,5 Punkte. Das war bereits der dritte Rückgang in Folge, ein klares Signal für eine Eintrübung.
Ein Einbruch am Arbeitsmarkt blieb bislang jedoch aber aus. Die Arbeitslosenquote verharrt bei niedrigen 4,2 Prozent. Im Privatsektor entstanden zuletzt im Monatsvergleich sogar 140 000 neue Jobs, deutlich mehr als die prognostizierten 110 000. Laut der Bank of America klaffen die gefühlte Krise und die reale Lage in den USA damit so stark auseinander wie nie zuvor.
Ein fundamentaler Unterschied rücke nun ins Zentrum der Analyse: der Unterschied zwischen den harten und weichen Daten. Weiche Daten messen Meinungen und Erwartungen. Sie basieren in der Regel auf Umfragen zur Geschäftslage oder zum Verbrauchervertrauen und liefern somit ein Stimmungsbild. Harte Daten hingegen bilden die tatsächliche Entwicklung ab: Beschäftigung, Lohndynamik, Investitionen oder Kreditvergabe. Die Indikatoren erzählen in den USA «gegensätzliche Geschichten».
Diese Diskrepanz ist für den Experten nicht nur statistisch interessant, sondern habe auch konkrete Folgen für die Aktienmärkte. Historisch betrachtet entwickelten sich US-Aktien zuletzt immer dann besonders gut, wenn die schlechte Stimmung eben nicht in einer tatsächlichen Rezession mündete.
Eine BofA-Analyse zeigt: In solchen Phasen stieg der S&P 500 binnen zwölf Monaten im Durchschnitt um 17 Prozent. Die Erklärung: Anlegerinnen und Anleger preisten das Schlimmste ein, liegen damit aber daneben. Jetzt könnte dieser Mechanismus laut Fidelity wieder wirken. «Die US-Notenbank könnte Zinssenkungen in Aussicht stellen, wofür die harten Daten Rückenwind bieten. Die Voraussetzungen für eine positive Überraschung sind also gegeben», schreibt Roemheld.
In Europa sei das Stimmungs- und Lagebild genau umgekehrt. In Deutschland steigt der ifo-Geschäftsklimaindex seit fünf Monaten in Folge und auch auf EU-Ebene signalisieren Stimmungsindikatoren zumindest vorsichtigen Optimismus. Die zuletzt stark gestiegene Unsicherheit unter Unternehmen habe abgenommen und das Vertrauen kehre langsam zurück. Doch die Realität hinke hinterher.
So fiel der Einkaufsmanagerindex in Deutschland zuletzt deutlich schwächer aus, als erwartet worden war. Der Sachverständigenrat erwartet 2025 ein Null-Wachstum. Die EU-Kommission hat ihre Prognose für die Eurozone auf 0,9 Prozent gesenkt. Die erhoffte Erholung stehe damit auf tönernen Füssen.
Hinzu kommt geopolitische Unsicherheit, die sich vor allem in Form der US-Zölle manifestiert. Zwar laufen Verhandlungen, deren Ausgang sei jedoch offen. Für Anlegerinnen und Anleger bedeute das: «In Europa wird am Markt derzeit eine weitaus bessere Zukunft eingepreist, als die harten Daten zeigen. In den USA wiederum könnte die Skepsis übertrieben sein.»
«Wenn Marktakteure sich mehr an Gefühlen als an Fakten orientieren, entstehen Chancen. In den USA herrscht Pessimismus, obwohl die Daten für eine stabile Konjunktur sprechen. In Europa hingegen weckt die gute Stimmung Hoffnungen, denen die Realität bisher nicht standhält. Entscheidend ist, nicht allein dem Stimmungsbarometer zu folgen, sondern Erwartungen und die Fundamentaldatenlage zusammenzudenken», so das Fazit.