«Geldpolitik unter Wasser: Das Klimadilemma der EZB»

07.11.2025 09:17

«Klimabezogene Risiken sind eine unmittelbare Bedrohung für die Finanzstabilität und das Wirtschaftswachstum. Die EZB könnte gezwungen sein, zwischen Preisstabilität und Wachstumsförderung zu wählen», schreibt Océane Balbinot-Viale, ESG-Analyst, Crédit Mutuel Asset Management.

Océane Balbinot-Viale, ESG-Analyst, Crédit Mutuel Asset Management. (Bild pd)
Océane Balbinot-Viale, ESG-Analyst, Crédit Mutuel Asset Management. (Bild pd)

Für diejenigen, die glauben, dass der Klimawandel lediglich ein langfristiges ESG-Thema ist, getrennt von kurzfristigen wirtschaftlichen Fundamentaldaten, hat die Europäische Zentralbank (EZB) eine eindrucksvolle Antwort parat: «Klimabezogene Risiken sind eine unmittelbare Bedrohung für die Finanzstabilität und das Wirtschaftswachstum.»

Diese Warnung, veröffentlicht im Juli 2025, wurde begleitet von einer neuen Analyse auf Basis kurzfristiger Szenarien des Netzwerks zur Ökologisierung des Finanzsystems (NGFS). Diese zeigt, dass extreme Klimaereignisse bereits ab 2026 das BIP der Eurozone bis Ende des Jahrzehnts um bis zu 4,7 Prozent senken könnten – ein Rückgang vergleichbar mit der globalen Finanzkrise. Selbst ohne direkte klimatische Schäden im Inland könnten indirekte Effekte wie Lieferkettenstörungen in rohstoffreichen Regionen die Wirtschaftsleistung der Eurozone um fast 2 Prozent verringern.

Doppelter Schock

Die besorgniserregendsten wirtschaftlichen Folgen, die von der EZB skizziert wurden, ergeben sich aus einem Szenario mit dem Titel «Katastrophen und politische Stagnation», in dem eine Reihe klimabedingter Katastrophen (von Hitzewellen und Dürren bis hin zu Waldbränden, Überschwemmungen und schweren Stürmen) weitreichende physische und wirtschaftliche Schäden verursacht. Der Schock ist doppelt: Die Produktions- und Vertriebskapazitäten werden beeinträchtigt, was die Preise steigen lässt, während das Vertrauen von Konsumenten und Investoren sinkt und dadurch die Nachfrage gedämpft wird.

Das Ergebnis ist Stagflation – eine unglückliche Kombination aus Inflation und geringem Wachstum, die Zentralbanken nur schwer bewältigen können. Auch wenn eine Straffung der Geldpolitik als klassische Reaktion auf steigende Preise erscheinen mag, könnte sie in einem durch den Klimawandel verursachten wirtschaftlichen Abschwung die Lage noch verschlimmern. Umgekehrt besteht bei einem Ausbleiben von Massnahmen gegen den Inflationsdruck die Gefahr, dass sich die Inflationserwartungen «entankern» und die Glaubwürdigkeit der Zentralbank untergraben wird.

Unangenehme Position für die EZB

Dieses Dilemma ist besonders akut für die EZB, deren Hauptauftrag die Preisstabilität ist, die aber auch für die Finanzstabilität verantwortlich ist. In einem Szenario mit physischer Zerstörung, sinkender Produktivität und fiskalischer Expansion zur Katastrophenbewältigung könnten diese beiden Prioritäten – ironischerweise – nicht mehr übereinstimmen.

Der Druck auf öffentliche Haushalte, die bereits durch begrenzte staatliche Bilanzen belastet sind, könnte die Sorgen um die Tragfähigkeit der Schulden und die Marktfragmentierung verstärken. Dieses Risiko betrifft besonders fiskalisch schwache Mitgliedstaaten, obwohl die Eurozone insgesamt mehr fiskalischen Spielraum besitzt als andere Industrieländer. Frühere Krisen wie die COVID-19-Pandemie oder der russische Angriff auf die Ukraine zeigen, dass fiskalische Reaktionen zunehmend auf EU-Ebene koordiniert wurden.

Es ist daher plausibel, dass zukünftige klimabezogene Ausgaben ebenfalls zumindest teilweise vergemeinschaftet werden. Finanzinstitute, die Regionen oder Sektoren mit hoher Klimabelastung ausgesetzt sind, könnten eine Verschlechterung der Vermögensqualität erleben. Die EZB könnte sich gezwungen sehen, zwischen Wachstumsförderung und Inflationsbekämpfung zu wählen – eine unangenehme Position für jede Zentralbank, insbesondere für eine, die in einer politisch vielfältigen Währungsunion agiert.

Diese Spannung wird durch die Tatsache verschärft, dass die geld-politische Transmission angesichts klimatischer Asymmetrien wahrscheinlich nicht neutral bleibt. Die Belastung durch EZB-Zinserhöhungen könnte überproportional auf ohnehin gefährdete Sektoren fallen – insbesondere solche, die sowohl Übergangs- als auch physischen Risiken ausgesetzt sind (kohlenstoffintensive Industrien, ressourcenabhängige Produktion oder klimaexponierte Sachwerte). Gleichzeitig könnten Übergangsfreundliche Sektoren wie erneuerbare Energien oder Energieeffizienztechnologien, obwohl langfristig widerstandsfähiger, in einem Umfeld strengerer finanzieller Bedingungen Schwierigkeiten haben, Kapital anzuziehen.

Wachsende Asymmetrie

Dies ist keine Spekulation: In einem Arbeitspapier von 2023 betonten EZB-Forscher, dass ein «langsamer grüner Übergang» die Verteilungseffekte der Geldpolitik verändern kann – ein Hinweis darauf, dass das aktuelle Instrumentarium möglicherweise nicht mehr gleichmässig wirkt. Diese wachsende Asymmetrie spiegelt sich auch in den jüngsten Entscheidungen der EZB wider: Im Juli 2025 kündigte die Bank die Einführung eines neuen «Klimafaktors» an, um die Bewertung von Sicherheiten in Refinanzierungsgeschäften anzupassen. In der Praxis werden Anleihen von Emittenten, die als stärker klimabezogenes Risiko tragen, strenger bewertet, was ihren Liquiditätswert für Banken reduziert.

Zwar soll die Massnahme das Eurosystem vor klimabezogenen Finanzrisiken schützen, sie könnte jedoch auch die Finanzierungsmöglichkeiten emissionsintensiver Sektoren weiter einschränken und die bereits bestehende Divergenz in der geldpolitischen Transmission verstärken.

Klimawandel als Inflationstreiber

Auch Staaten werden sich zunehmender Investorenkritik stellen müssen. Die Gefahr klimabedingter fiskalischer Verschlechterung und einer Neubewertung der Anleihemärkte birgt das Risiko erneuter Fragmentierung innerhalb der Eurozone. Instrumente wie das Pandemie-Notfallankaufprogramm (PEPP) und das Transmission Protection Instrument (TPI) wurden entwickelt, um ungerechtfertigte Spreads zwischen Mitgliedstaaten zu verhindern. Ihre Wirksamkeit bei klimabedingter Divergenz bleibt jedoch ungewiss. Obwohl die Inflationserwartungen gut verankert sind (die mittleren Erwartungen der Verbraucher für 2030 liegen weiterhin nahe dem EZB-Ziel von 2 Prozent), wird der Klimawandel zunehmend als Treiber von Inflation wahrgenommen.

Laut einer Umfrage von PwC aus dem Jahr 2024 gaben fast 9 von 10 Verbrauchern an, die Auswirkungen des Klimawandels in ihrem Alltag direkt zu spüren, und fast ein Drittel nannte Inflation als grösstes Risiko für ihre Konsumgewohnheiten. Das Entstehen eines wahrgenommenen Zusammenhangs zwischen Klimaereignissen und Preissteigerungen könnte die Inflations-psychologie allmählich verändern – insbesondere, wenn extreme Wetterereignisse häufiger und schädlicher werden. Diese Diskrepanz zwischen tatsächlichen Erwartungen und wahrgenommenen Ursachen der Inflation könnte die Reaktionsfähigkeit der EZB langfristig erschweren.

Neubewertung der Portfoliokonstruktion

Für Investoren haben diese Entwicklungen weitreichende Folgen. Das makroökonomische Umfeld, in dem Geldpolitik betrieben wird, wird durch den Klimawandel neu geformt. Dies erfordert eine Neubewertung der Portfoliokonstruktion, insbesondere bei Staatsanleihen. Staatsanleihen der Eurozone, lange als risikofrei oder zumindest risikoarm angesehen, müssen nun unter Berücksichtigung klimabedingter fiskalischer Kapazitäten, Investitionen in Anpassungsinfrastruktur und politischer Polarisierung neu bewertet werden. Auch sektorale Allokationsstrategien müssen sich weiterentwickeln.

Über ESG-Ratings und Klimaberichtsdaten hinaus zählt zunehmend, wie stark ein Unternehmen oder Sektor dem neuen makro-finanziellen Umfeld ausgesetzt ist – einem Umfeld, das durch gestörte Wachstumsdynamiken, unvorhersehbare Inflation und potenziell restriktivere Finanzierungsbedingungen geprägt ist.

In diesem Kontext dürfen Klimaszenarien nicht länger nur Teil von Nachhaltigkeitsberichten oder Stresstests sein. Sie müssen zentrale Bestandteile von Wirtschaftsprognosen, Asset-Liability-Modellierungen und langfristigen Renditeerwartungen werden. Dies umfasst sowohl physische Katastrophen als auch chronische Trends (regulatorische Verschärfungen, Ressourcenknappheit…). Ebenso wichtig ist, dass klimabewusste Portfoliokonstruktion durch aktives Engagement ergänzt wird.

Wir sind überzeugt, dass Asset Manager weiterhin glaubwürdige Übergangspläne, bessere Offenlegung physischer Risiken und klarere politische Signale einfordern sollten. Die Förderung wirksamer CO₂-Bepreisungsmechanismen, taxo-nomiekonformer Investitionen und resilienter öffentlicher Politik ist nicht nur eine Frage der Werte – sondern auch der Finanzstabilität und des langfristigen Werts.

Die Botschaft der EZB ist klar und der Zeitrahmen ist kurz. Der Klimawandel ist nicht mehr nur ein langfristiges Nachhaltigkeitsthema. Er ist eine makroökonomische Realität, die bereits in die Annahmen der Geldpolitik eindringt und das Finanzsystem, wie wir es kennen, zu erschüttern droht. Für Asset Manager bedeutet dies auch, das Prinzip der doppelten Wesentlichkeit anzuerkennen: In einer Welt, in der Finanzentscheidungen zunehmend Klimaergebnisse beeinflussen, müssen Investoren nicht nur bewerten, wie der Klimawandel Portfolios beeinflusst – sondern auch, wie Portfolios das Klima beeinflussen.

Diese strukturellen Veränderungen vorauszusehen und zu integrieren, ist nicht nur gute Praxis – sondern zunehmend entscheidend für widerstandsfähige Performance in einer Ära wachsender Unsicherheit.

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